Gemeinsam stark

Betroffene von seltenen Erkrankungen hatten lange Zeit guten Grund, sich mit ihren Leiden allein gelassen zu fühlen. Das ändert sich, wenn auch langsam.
Illustration: Malcolm Fisher
Mirko Heinemann Redaktion

Im März stellten Abgeordnete der FDP im Bundestag eine so genannte Kleine Anfrage. Die Politiker wollten von der Bundesregierung unter anderem wissen, wie sie die Versorgungslage von Menschen mit seltenen Erkrankungen in Deutschland einschätzt. Die Antwort: Deutschland verfüge über eine „hohe Dichte an gut ausgebildeten Fachärztinnen und -ärzten sowie Pflegekräften und medizinischem Personal, hohen stationären Kapazitäten und eine gute apparative, medizinisch-technische Ausstattung“. Es sei grundsätzlich von einer „günstigen Versorgungslage“ für alle Bürgerinnen und Bürger und damit auch für Menschen mit seltenen Erkrankungen auszugehen.


Wohlgemerkt, die Antwort kam am 12. März und damit zwei Wochen vor dem großen Corona-Lockdown. Dass das Geusndheitssystem unter extreme Belastung geraten würde, war damals noch nicht abzusehen. Dennoch sorgte die Antwort für Erstaunen, und zwar vor allem bei den Betroffenen selbst. Mirjam Mann, Geschäftsführerin von ACHSE e.V., erklärte, dass diese Haltung die ACHSE als Stimme der vier Millionen Menschen mit zum großen Teil schwerwiegend verlaufenden chronischen seltenen Erkrankungen in Deutschland nicht nachvollziehen könne. „Dies spiegelt mitnichten die tägliche Erfahrung wider, die Betroffene, deren Angehörige sowie Mitarbeitende medizinischer Einrichtungen im Netzwerk der ACHSE schildern.“ ACHSE, die Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen, ist der Dachverband der Menschen mit seltenen Erkrankungen und zählt 130 Mitglieds-organisationen.


Deutschland, räumte Mann ein, habe im internationalen Vergleich sicherlich ein sehr gutes Gesundheitswesen. Dennoch sei unumstritten, dass die Versorgung von Menschen mit seltenen Erkrankungen alles andere als optimal sei. Erfahrungsberichte stützen leider diese Sichtweise. Immer wieder berichten Betroffene von einer Odyssee durch das Gesundheitssystem, von ratlosen Ärzten und Klinikaufenthalten ohne valide Diagnose, von Vorwürfen, sie seien Hypochonder oder psychisch labil.


Ihr Problem: Sie sind unter allen Patientinnen und Patienten eine Besonderheit. Nicht die Regel, sondern die Ausnahme. Höchstens fünf von 10.000 Menschen in der Europäischen Union dürfen von derselben Krankheit maximal betroffen sein, damit sie als „Seltene Erkrankung“ eingestuft wird. Umgekehrt gibt es viele Arten, nämlich geschätzt 6.000 bis 7.000 verschiedene seltene Erkrankungen. Und so kommt es, dass die Organisation „Eurodis – Rare Diseases Europe“ schätzt, dass immerhin sechs bis sieben Prozent der EU-Bevölkerung an einer seltenen Erkrankung leiden. Insgesamt sind das dann ziemlich viele, nämlich 30 Millionen Menschen.


Allein in Deutschland leiden mehr als vier Millionen Menschen an einer dieser „Orphan Deseases“, der „Waisenkrankheiten“, wie es im Englischen heißt. Oft handelt es sich um sehr schwere, oft chronische Krankheiten, die eine aufwändige Behandlung und Betreuung erfordern. Das können Formen von Krebs sein, Erkrankungen des Herzkreislaufsystems oder Stoffwechselerkrankungen. Auch eine Kinderdemenz oder eine Infektionskrankheit wie Tuberkulose oder eine Autoimmunkrankheit wie das Sjögren-Syndrom sind selten. Ständig kommen neue Krankheiten dazu. Auch kann sich der Status „selten“ mit der Zeit oder auch regional ändern. Ein Beispiel hierfür ist die Thalassämie. Diese genetisch bedingte Form der Blutarmut kommt selten in Nordeuropa, aber häufig in den Mittelmeerländern vor. Es gibt auch Krankheiten, die in ihren Haupterscheinungsformen überall häufig sind, in Sonderformen aber selten auftreten.


Etwa 80 Prozent der seltenen Krankheiten sind genetisch bedingt, daher machen sich viele schon bei der Geburt oder im frühen Kindesalter bemerkbar. Bei vielen seltenen Krankheiten können die ersten Symptome schon kurz nach der Geburt oder in früher Kindheit auftreten. Andere entwickeln sich erst im Erwachsenenalter. Viele dieser Krankheiten sind lebensbedrohlich oder führen zu Invalidität. Die meisten verlaufen chronisch: Sie lassen sich nicht heilen, die Patienten sind dauerhaft auf ärztliche Behandlung angewiesen.


Die Seltenheit der einzelnen Erkrankungen stellt alle Betroffenen vor große Herausforderungen, denn sie erschwert sowohl die medizinische Versorgung der Betroffenen als auch die Forschung zur Verbesserung von Diagnose und Therapie. Seit 2000 gibt es eine EU-Verordnung über „Arzneimittel für seltene Leiden“ (Orphan Drugs), also Medikamente, die nur einer vergleichsweise kleinen Zahl von Patienten zugutekommen und daher ohne ökonomische Anreize von den Medikamentenherstellern nicht entwickelt und produziert werden würden. Mit der Anerkennung eines Medikamentes als Orphan Drug erhält der pharmazeutische Hersteller Vorteile in Form einer Befreiung von Gebühren, einer beschleunigten Bearbeitung des Zulassungsantrages und eines zehnjährigen Marktexklusivrechts.


Durch diese EU-Verordnung wurden seit 2000 etwa 140 zugelassene Orphan Drugs für die Patienten verfügbar. Gegenüber den 7.000 bis 8.000 seltenen Erkrankungen mag diese Zahl klein erscheinen. In vielen Fällen bieten diese Orphan Drugs aber den betroffenen Patienten erstmalig überhaupt eine therapeutische Option und sollen es ihnen ermöglichen, trotz oder auch mit ihrer Erkrankung länger oder zumindest besser zu leben. Erfolgreiche Beispiele dafür sind Medikamente gegen die Muskelerkrankung Morbus Pompe, die Blutkrebsart chronische myeloische Leukämie oder den Lungenhochdruck.


Heute können hunderte seltene Krankheiten durch einen einfachen biologischen Test nachgewiesen werden. Für einige der Krankheiten konnte das Wissen über den natürlichen Krankheitsverlauf durch den Aufbau von Registern erweitert werden. Die Bildung von Netzwerken fördert den Austausch von Wissen und führt zu einer Verbesserung der Forschungseffizienz.  Die Gesamtperspektive hat sich verbessert, da in vielen europäischen Ländern durch veränderte Gesetzgebungen und nationale Anstrengungen neue Grundlagen zur Bekämpfung der seltenen Krankheiten geschaffen wurden.


2010 wurde auf Empfehlung der Europäischen Union ein Nationales Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE) gegründet, in dem sich Akteure des Gesundheitswesens sowie von Patientenorganisationen zusammenfinden. Das Bündnis erarbeitete bis 2013 einen „Nationalen Aktionsplan für Menschen mit Seltenen Erkrankungen“ mit dem Ziel, die gesundheitliche Situation Betroffener in Deutschland zu verbessern. Kernelement ist die Entwicklung eines Zentrenmodells in drei arbeitsteilig gegliederten miteinander vernetzten Ebenen (Referenz-, Fach- und Kooperationszentren), mit dem Expertise gebündelt und die Forschung im Bereich Seltener Erkrankungen unterstützt werden sollen.


Für Mirjam Mann von ACHSE sind seit der Verabschiedung des Nationalen Aktionsplans 2013 einige wichtige Verbesserungen realisiert worden. So zum Beispiel die vom Gemeinsamen Bundesausschuss verabschiedete bundeseinheitliche Zentren-Regelung, die die Zuschlagsregelungen konkretisiert. Die Finanzierung der Hochschulambulanzen sei „klar verbessert“ worden. Die ACHSE schätzt zudem die Bemühungen um den Erhalt der Geschäftsstelle des Nationalen Aktionsbündnisses für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE) sehr. Dennoch ist man sich auch im NAMSE einig, dass noch enorm viel zu tun ist.


„Wir hätten uns einen selbstkritischeren Umgang mit dem Thema gewünscht oder gar die Formulierung von Zielen, die zu Verbesserungen beitragen. Das BMG trägt eine große Verantwortung, dass das deutsche Gesundheitswesen auch für Menschen mit Seltenen Erkrankungen die bestmögliche Versorgung bietet, damit sie länger und besser leben können und sich die Familien nicht alleine gelassen fühlen“, so Mirjam Mann. „Für Menschen mit Seltenen Erkrankungen gibt es keine Heilung. Für ihre Versorgung gilt wie auch in der Krise: Nur gemeinsam sind wir stark!“

 

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