»Selten« sind ziemlich viele

Vier Millionen Deutsche und 30 Millionen EU-Bürger leiden an einer seltenen Erkrankung. Bis zur Diagnose durchleiden sie oft eine lange Odyssee.
Illustration: Maria Martin
Illustration: Maria Martin
Mirko Heinemann Redaktion

Jedes Jahr am 28. Februar findet der Tag der seltenen Erkrankungen statt, auf englisch „Rare Disease Day“. In diesem Jahr, appellierte die Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (ACHSE) an Politik und Gesellschaft: „Zeigen Sie, dass Sie vier Millionen betroffene Kinder und Erwachsene mit chronischen seltenen Erkrankungen unterstützen!“


Vier Millionen? Nach „selten“ klingt das nicht. Das wiederum liegt daran, dass es viele seltene Erkrankungen gibt. Zwar dürfen höchstens fünf von 10.000 Menschen in der Europäischen Union von derselben Krankheit betroffen sein, damit sie als „Seltene Erkrankung“ eingestuft wird. Allerdings gibt es sehr viele Erkrankungsarten, nämlich geschätzt 6.000 bis 7.000 verschiedene seltene Erkrankungen. Und so kommt es, dass die Organisation „Eurodis – Rare Diseases Europe“ schätzt, dass immerhin sechs bis sieben Prozent der EU-Bevölkerung an einer seltenen Erkrankung leiden. Insgesamt sind das dann ziemlich viele, nämlich 30 Millionen Menschen.


Ihr Problem: Sie sind unter allen Patientinnen und Patienten nicht die Regel, sondern die Ausnahme. Immer wieder berichteten Betroffene von einer Odyssee durch das Gesundheitssystem, von ratlosen Ärzten und Klinikaufenthalten ohne valide Diagnose. „Viele Patienten mit einer seltenen Erkrankung berichten, dass sie sich im Laufe ihrer Odyssee durch die Arztpraxen und Krankenhäuser als Hypochonder stigmatisiert fühlen“, so Dr. med. Beate Kolb-Niemann, Stellvertretende Direktorin der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Universitätsklinikums Gießen und Marburg.


Menschen mit einer seltenen Erkrankung warten im Durchschnitt vier Jahre auf ihre Diagnose. In dieser Zeit wenden sie sich  durchschnittlich an fünf Ärzte. Im Schnitt bekommen sie währenddessen drei Fehldiagnosen. „Kein Wunder, dass eine große Mehrheit der Patienten von einem negativen Einfluss des langen Prozesses der Diagnosefindung auf die psychische Gesundheit  berichtet“, so Kolb-Niemann. „Diese Menschen haben einen langen Leidensweg hinter sich.“


Allein in Deutschland leiden mehr als vier Millionen Menschen an einer dieser „Orphan Diseases“, der „Waisenkrankheiten“, wie es im Englischen heißt. Oft handelt es sich um sehr schwere, oft chronische Krankheiten, die eine aufwändige Behandlung und Betreuung erfordern. Das können Formen von Krebs sein, Erkrankungen des Herzkreislaufsystems oder Stoffwechselerkrankungen. Auch eine Kinderdemenz oder eine Infektionskrankheit wie Tuberkulose oder eine Autoimmunkrankheit wie das Sjögren-Syndrom sind selten. Ständig kommen neue Krankheiten dazu. Auch kann sich der Status „selten” mit der Zeit oder auch regional ändern. Ein Beispiel hierfür ist die Thalassämie. Diese genetisch bedingte Form der Blutarmut kommt selten in Nordeuropa, aber häufig in den Mittelmeerländern vor. Es gibt auch Krankheiten, die in ihren Haupterscheinungsformen überall häufig sind, in Sonderformen aber selten auftreten.


Etwa 80 Prozent der seltenen Krankheiten sind genetisch bedingt, daher machen sich viele schon bei der Geburt oder im frühen Kindesalter bemerkbar. Bei vielen seltenen Krankheiten können die ersten Symptome schon kurz nach der Geburt oder in früher Kindheit auftreten. Andere entwickeln sich erst im Erwachsenenalter. Viele dieser Krankheiten sind lebensbedrohlich oder führen zu Invalidität. Die meisten verlaufen chronisch: Sie lassen sich nicht heilen, die Betroffenen sind dauerhaft auf ärztliche Behandlung angewiesen.


Die Seltenheit der einzelnen Erkrankungen stellt alle Betroffenen vor große Herausforderungen, denn sie erschwert sowohl die medizinische Versorgung der Betroffenen als auch die Forschung zur Verbesserung von Diagnose und Therapie. Seit 2000 gibt es eine EU-Verordnung über „Arzneimittel für seltene Leiden“ (Orphan Drugs), also Medikamente, die nur einer vergleichsweise kleinen Zahl von Patientinnen und Patienten zugutekommen und daher ohne ökonomische Anreize von den Medikamentenherstellern nicht entwickelt und produziert werden würden. Mit der Anerkennung eines Medikamentes als Orphan Drug erhält der pharmazeutische Hersteller Vorteile in Form einer Befreiung von Gebühren, einer beschleunigten Bearbeitung des Zulassungsantrages und eines zehnjährigen Marktexklusivrechts.
Durch diese EU-Verordnung wurden seit 2000 etwa 140 zugelassene Orphan Drugs verfügbar.


Gegenüber den 7.000 bis 8.000 seltenen Erkrankungen mag diese Zahl klein erscheinen. In vielen Fällen bieten diese Orphan Drugs aber den Betroffenen erstmalig überhaupt eine therapeutische Option und sollen es ihnen ermöglichen, trotz oder auch mit ihrer Erkrankung länger oder zumindest besser zu leben. Erfolgreiche Beispiele dafür sind Medikamente gegen die Muskelerkrankung Morbus Pompe, die Blutkrebsart chronische myeloische Leukämie oder den Lungenhochdruck.


Heute können hunderte seltene Krankheiten durch einen einfachen biologischen Test nachgewiesen werden. Für einige der Krankheiten konnte das Wissen über den natürlichen Krankheitsverlauf durch den Aufbau von Registern erweitert werden. Die Bildung von Netzwerken fördert den Austausch von Wissen und führt zu einer Verbesserung der Forschungseffizienz. Die Gesamtperspektive hat sich verbessert, da in vielen europäischen Ländern durch veränderte Gesetzgebungen und nationale Anstrengungen neue Grundlagen zur Bekämpfung der seltenen Krankheiten geschaffen wurden.


In der Corona-Krise hatten es Menschen mit Seltenen Erkrankungen besonders schwer. Oft waren sie besonders isoliert, Hilfe war schwerer zu bekommen. Weil Krankenhäuser mit der Versorgung von Covid-19-Betroffenen ausgelastet waren, verzögerte sich die ohnehin komplizierte Diagnose  noch weiter. Mirjam Mann von der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen  „Für Menschen mit Seltenen Erkrankungen gibt es keine Heilung. Für ihre Versorgung gilt wie auch in der Krise: Nur gemeinsam sind wir stark!“

 

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