Per Mausklick zur Diagnose

Es sind unbekannte Muster, die Ärzten die Diagnose bei seltenen Erkrankungen erschweren. Digitalisierung und neue Technologien könnten sie deutlich erleichtern, meint Dr. med. Tobias Müller, Rhön-Klinikum Bad Neustadt a. d. Saale.
Illustrationen: Maria Corbi Illustration
Julia Thiem Redaktion

Herr Dr. Müller, die Aufmerksamkeit für seltene Erkrankungen ist in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. Sollten Patienten da nicht mittlerweile auch schneller und zielgerichteter eine Diagnose bekommen?
Es ist erfreulich und berechtigt, dass die seltenen Erkrankungen zunehmend mehr Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit erfahren. Dennoch darf man nicht vergessen, dass es etwa 8.000 verschiedene seltene Erkrankungen mit vielfältiger Ausprägung der Symptome in häufig unterschiedlichen Organsystemen gibt. Im klinischen Alltag bleiben sie damit eine diagnostische Herausforderung.

 

 

Warum ist es im Praxisalltag so schwierig, eine umfassende Differenzialdiagnose zu erstellen?
Eine Differenzialdiagnose zu erstellen, heißt, alle möglichen ursächlichen Erkrankungen für einen gegebenen Symptomkomplex aufzustellen. Das ist unbestritten eine der wichtigsten, aber eben auch intellektuell herausforderndsten Aufgaben des Arztberufs. Zudem funktioniert eine der wichtigsten diagnostischen Heuristiken, die Mustererkennung, bei unbekannten Symptomkomplexen schlichtweg nicht. Darüber hinaus fehlt es vermehrt an Zeit – zum einen für die intensive eigene Recherche, zum anderen aber auch für den Austausch mit Kollegen. Beides schmälert den diagnostischen Erfolg.

 

Dabei müssen Ärzte heute ja keine „wandelnden Lexika“ mehr sein, oder? Dank Internet und Digitalisierung sind immer mehr Informationen frei verfügbar.
Allein das Vorhandensein an frei verfügbarer Information schafft noch keinen Mehrwert. Im Zuge der Digitalisierung erleben wir ein geradezu exponentielles Wachstum von Informationen. Mit dieser Fülle kognitiv umzugehen, wird zunehmend zu einer Herausforderung bei diagnostischen und therapeutischen Entscheidungen. Und Universalsuchmaschinen für die Diagnosestellung bei seltenen Erkrankungen heranzuziehen, ist aus meiner Sicht nicht empfehlenswert. Denn die vorherrschenden Ranking-Algorithmen sowie kommerzielle Aspekte haben zur Folge, dass diese Erkrankungsgruppe bei der Anwendung von Suchmaschinen eher unterrepräsentiert wird. Hier gibt es spezialisierte Programme wie FindZebra oder Phenomizer für den ärztlichen Fachanwender.

 

Könnten denn neue Entwicklungen wie Big Data oder KI bei der Diagnose seltener Erkrankungen helfen?
Auf beiden Gebieten stehen momentan insbesondere Bild- und genetische Daten im Fokus. Beide Kategorien lassen sich im Kontext der seltenen Erkrankungen zur Entscheidungsunterstützung nutzen. So wurde Anfang des Jahres ein deep-learning-basierter Algorithmus publiziert, welcher Gesichtsmerkmale auf Fotos zur Krankheitsidentifikation heranzieht. Außerdem sind Algorithmen in der Analyse des Genoms nicht mehr wegzudenken und dienen dem Abgleich zwischen genetischen Varianten und Symptomkomplexen. Dies ist wichtig, da etwa 80 Prozent der seltenen Erkrankungen genetisch determiniert sind. Es existieren ebenfalls Algorithmen zur Identifikation neuer oder gar bestehender Medikamente für die Therapie seltener Erkrankungen. Hierdurch kann die Entwicklung neuer Medikamente beschleunigt und effizienter gestaltet werden. ■

 

 

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