Wache Nächte

Zu wenig Schlaf macht krank. Wann und wie viel wir schlafen, hängt dabei aber überraschend stark von gesellschaftlichen Konventionen ab.
Illustrationen: Maria Corbi Illustration
Klaus Lüber Redaktion

Schlaf ist ein grundlegender und notwendiger biologischer Prozess, der ebenso erfüllt werden muss wie unser Bedarf an Nahrung und Getränken. So bringt es eine 2013 veröffentliche Studie australischer Wissenschaftler zu den Belastungen einer gestörten Nachtruhe für das öffentliche Gesundheitssystem des Landes auf den Punkt. Und sinngemäß steht dieser Satz in so ziemlich jedem neueren Paper zum Thema. Die TK-Schafstudie von 2017 formuliert es so: Gerade in einer Wissensgesellschaft wie der unseren ist erholsamer Schlaf nicht nur physiologisch, sondern auch gesellschaftlich wichtig.


Interessant ist die Handlungsempfehlung, die die Krankenkasse aus dieser Erkenntnis ableitet. Wir sollten unser Schlafverhalten nicht rationalisieren, sondern optimieren, so heißt es. Und das scheint, glaubt man der aktuellen Schlafforschung, tatsächlich ein zentraler Unterschied zu sein. So gibt es inzwischen eine ganze Latte an Empfehlungen, wie die Nachtruhe so gestaltet werden kann, dass am Ende eine möglichst ideale Ruhephase von sechs bis acht Stunden dabei herauskommt. Mit einer schnellen, problemlosen Einschlafphase und dem Gefühl des „Durchgeschlafenhabens“ nach dem morgendlichen Aufwachen. Ob es der abendliche Smartphoneverzicht, das Abendessen nicht später als 20 Uhr oder die Kurzmeditation direkt vor dem Einschlafen ist: Jeder, so das Narrativ des idealen Schlafs, könne seine nächtliche Regenerationsphase perfektionieren.


Doch mindestens genauso wichtig, und auch das ließe sich in der Empfehlung zur „Optimierung“ statt „Rationalisierung“ herauslesen, wäre die Erkenntnis, dass es den physiologisch „idealen“ Schlaf vielleicht gar nicht gibt. Oder anders gesagt: Dass das, was wir unter einem idealen Schlaf verstehen weniger mit rein körperlichen Bedürfnissen zu tun hat als wir denken. Und viel eher davon geprägt ist, welche gesellschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen im Hintergrund wirken.


Noch im 17. Jahrhundert, also unmittelbar vor dem durch die industrielle Revolution ausgelösten Rationalisierungstrend, wurde die Schlafenszeit zum Beispiel nicht zwingend nach der Uhrzeit bemessen, sondern eher danach, ob es etwas zu tun gab. Ins Bett ging man nach Sonnenuntergang, allerdings nur für ein paar Stunden. Danach standen viele wieder auf, um kleinere Hausarbeiten zu erledigen, sich zu unterhalten oder sich sogar zum Tanzen zu treffen, wie etwa der US-Historiker und Schlafforscher Roger Ekirch in seinem 2006 erschienen Buch „In der Stunde der Nacht“ beschreibt. Danach ging es wieder zurück ins Bett.


Erst nach und nach, so Ekirch, fingen die Menschen an, in einen 16-8-Rhythmus überzugehen. Und genau in dieser Zeit wurden interessanterweise auch die ersten Schlafstörungen dokumentiert. Dass eine erste und zweite Schlafphase eventuell sogar unserem natürlichen Rhythmus entspricht, legt eine bereits 1992 erschienene Studie des US-Psychologen Thomas Wehr nahe. Probanden wurden einen Monat lang statt der üblichen acht Stunden 14 Stunden Dunkelheit ausgesetzt. Nach drei Wochen Gewöhnungszeit gingen sie tatsächlich dazu über, zweimal am Tag zu schlafen, je für vier Stunden mit einer ein- bis dreistündigen Pause.


Nun mag ein Verweis auf die Kulturgeschichte des Schlafs für diejenigen, die sich tatsächlich durch ruhelose Nächte quälen, nur ein schwacher Trost sein. Im Idealfall könnte er aber vielleicht dazu beitragen, den Druck des „Schlafenmüssens“ reduzieren, dem sich viele Betroffene ausgesetzt fühlen. Für viele Schlaflose ein erster Schritt, um wieder besser zur Ruhe zu kommen. ■

 

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