Leben mit Diabetes

Zwei Millionen Deutsche sollen unter Diabetes leiden, ohne es zu wissen. Die Erkrankung verläuft oft unbemerkt – je früher sie diagnostiziert wird, desto geringer sind die Komplikationen.
Illustration: Ivonne Schulze
Illustration: Ivonne Schulze
Mirko Heinemann Redaktion

Tims Geschichte begann im August 2014. Der 24-Jährige kam aus dem Urlaub, und alle fragten, ob er gewachsen sei oder abgenommen hätte. In der Tat hatte der junge Mann einige Kilos verloren. Er trank viel. Plötzlich begannen abends und nachts Wadenkrämpfe, die Haut wurde trocken, seine Mundwinkel rissen ein. „Ich war am Tag nach einem längeren Arbeitstag komplett müde und fertig“, erzählt Tim – eigentlich alles klassische Symptome für Diabetes mellitus.

Am langen Wochenende über den Tag der Deutschen Einheit hatte er frei und wollte ein ruhiges Wochenende bei seinen Eltern verbringen. „Auf der einstündigen Bahnfahrt hatte ich eine Ein-Liter-Wasserflasche ausgetrunken, zu Hause angekommen musste ich erst mal aufs Klo, und dann wollte ich gleich wieder etwas trinken.“ Seine Mutter, eine Krankenschwester, schöpfte Verdacht: „Wir messen jetzt mal deinen Blutzucker!“ Ein Messgerät war im Haus. Nach der Messung von 562 mg/dl ging es sofort in die Notaufnahme – und von dort aus auf die Intensivstation.

Die Geschichte, die Tim der Deutschen Diabetes-Hilfe erzählte, zeigt, dass es jeden treffen kann - und viele trifft es, ohne dass sie es wissen. Zwei Millionen Deutsche, so schätzt die Organisation, wissen nichts von ihrer Diabetes-Erkrankung. Die Zahlen sind auch so schon alarmierend genug:  Diabetes nimmt weltweit und in Deutschland dramatisch zu. In ihrem ersten globalen Diabetes-Report geht die Weltgesundheitsorganisation (WHO) davon aus, dass 422 Millionen Erwachsene an Diabetes leiden. Das sind 8,5 Prozent aller Volljährigen weltweit. Seit 1980 hat sich die Zahl nahezu vervierfacht.

In Europa ist sie von 33 auf 64 Millionen gestiegen. Vor allem der Typ-2-Diabetes ist auf dem Vormarsch. In Deutschland sind laut Robert-Koch-Institut (RKI) mehr als sechs Millionen Erwachsene betroffen, wobei 80 bis 90 Prozent am Typ-2-Diabetes leiden. Mit steigender Tendenz: „Fast jeder Zehnte leidet an Diabetes“, so eine aktuelle Meldung des Helmholtz Zentrums München, einem Partner im Deutschen Zentrum für Diabetesforschung. Und: Jeder vierte Patient in einer Universitäts-Klinik leidet unter Diabetes, noch einmal so viele an Prädiabetes, einem Frühstadium des Diabetes. „Angesichts der hohen Diabetes-Prävalenz und der negativen Auswirkungen, die die Stoffwechselerkrankung hat, halten wir es für sinnvoll, über 50-jährige Patienten in Kliniken auf unerkannten Diabetes zu screenen“, erklären die Studienautoren Andreas Fritsche und Andreas Peter. „Dann kann die Stoffwechselerkrankung gleich mit behandelt und so vielleicht Komplikationen oder verlängerte Krankenhausaufenthalte vermieden werden.“

Diabetes verläuft im Anfangsstadium häufig unbemerkt. Bis zur Diagnose können bis zu zehn Jahre vergehen. Wird die Erkrankung zu spät bemerkt, können Komplikationen auftreten - etwa an Herz und Kreislauf oder an den Extremitäten. Jedes Jahr werden etwa 40.000 diabetesbedingte Amputationen durchgeführt, und Typ-2-Diabetes ist die häufigste Erkrankung, die zu Nierenversagen führt. 75 Prozent der Menschen mit Diabetes sterben verfrüht an kardiovaskulären Komplikationen. Deshalb fordert die Deutsche Diabetes-Hilfe eine Ausweitung des Check-ups zu einem „Gesundheits-Check 35 plus D (Diabetes)“ mit einer Erweiterung um den Langzeitblutzuckertest (HbA1c-Wert).

Ein Risikofaktor für Diabetes ist Übergewicht infolge von Bewegungsmangel in Verbindung mit einer fettreichen Ernährung.  Aber auch schlanke Menschen können erkranken. Eine Ursache für Diabetes-Typ-2 ist die so genannte Insulinresistenz: Das Hormon sorgt dafür, dass Muskelzellen und Gehirn die Kohlenhydrate, also Zucker, aufnehmen können. Wenn das nicht mehr funktioniert, verbleibt der Zucker im Blut. Laut aktuellen Forschungen des Universitätsklinikums Tübingen und des Instituts für Diabetesforschung hat fast jeder fünfte schlanke Mensch ein erhöhtes Risiko an Diabetes sowie auch an Herzkreislauf-erkrankungen zu erkranken. Die Betroffenen haben eine Fehlfunktion bei der Fettspeicherung, sodass sie kaum Fett am Oberschenkel anlagern.

Von einer Heilung der Stoffwechselkrankheit ist man weit entfernt. Ein großer Teil der Patienten kann jedoch im Anfangsstadium durch eine Ernährungsumstellung und sportliche Betätigung den Ausbruch der Symptome verhindern. Versuche an Mäusen haben gezeigt, dass die Tiere sehr viel schneller zunehmen, wenn ihre Eltern durch fettreiche Ernährung dick wurden und in der Folge einen Typ-2-Diabetes entwickelt hatten. Über die Eizellen und Spermien wurde diese Information epigenetisch, also umkehrbar, an die Nachkommen weitergegeben.

Der Typ-1-Diabetes hingegen trifft vor allem Kinder und Jugendliche. Er ist eine Autoimmun-erkrankung: Das Immunsystem greift die insulinproduzierenden Betazellen an und zerstört sie. Infolgedessen kann der Körper kein Insulin mehr produzieren. Die Ursachen sind noch nicht komplett erforscht. Dirk Süßenberger lebt seit 30 Jahren mit einem Diabetes Typ 1. In seinem Blog www.diabetes-lifestyle.indisu.com lässt sich das Auf und Ab seines Alltags mit der Erkrankung nachvollziehen. Aber vor allem soll der Blog anderen Diabetikern Mut machen und zeigen, dass das Leben weitergeht: Es geht um Reisen, Sport, Business und um leckeres Essen. „Wenn man den Diabetes akzeptiert, kann man alles, sowohl den Alltag, als auch extreme Situationen, genauso meistern wie ein Nicht-Diabetiker.“ Dafür aber, so Süßenberger, sei es wichtig zu wissen, dass man Diabetes habe. „Wenn man sich mit dem Thema auseinander setzt, kann man als Betroffener in Deutschland ein sehr gutes Leben führen.“

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